Sie wollte es doch auch! Ein 11-jähriges Mädchen in “Bild”-Fängen

Von 10

Screenshot von Bild.de vom 2.1.2012

Ein Kommentar von Christina Wittich

Die Bild hat tatsächlich auch ein Herz - „Ein Herz für Kinder“. „Wir übernehmen Verantwortung“ heißt es im Impressum der Springer-Stiftung.

Bis in die Leipziger Lokalredaktion ist dieser Slogan bisher allerdings noch nicht durchgedrungen. Dort hat zumindest Autor Johannes Proft, und mit ihm offenbar auch verantwortliche Blattmacher, kein Problem, eine Elfjährige für knackige Schlagzeilen an den Pranger zu stellen. „Lisa mit Ex-Freund der Mutter verschwunden“, titelt das Blatt am 2. Januar in der Überzeile und fährt fort mit der Überschrift „So gestand er (28) ihr (11) seine kranke Liebe“.

Es geht in diesem ersten Text nicht um Kindesmissbrauch, um die Vernachlässigung elterlicher Aufsichtspflichten, um schlampige polizeiliche Ermittlungen oder wenigstens darum, Sorge um das Kind auszudrücken. Potential dafür wäre ausreichend vorhanden.

Dem Autor geht es in erster Linie darum, „die tragische Geschichte einer verbotenen Liebe“ in einer Mischung aus „Romeo und Julia“ und „Lolita“ zu erzählen - auf Kosten eines Kindes, das offenbar von einem vermutlich pädophilen Mann entführt wurde. „Abgehauen mit ihrem Freund Mario F. (28)“, sei Lisa, deren voller Name, im Gegensatz zum Namen des mutmaßlichen Entführers selbstverständlich genannt wird. Ihren Vater zitiert Herr Proft mit den Worten: „Liebe kann man offenbar nicht verbieten.“

Der "Bild"-Journalist schlussfolgert aus einem vorliegenden Liebesbrief des 28-Jährigen Mario F. und aus den Angaben des Erziehungsberechtigten: „Seit seine Tochter Ende November erstmals mit dem gebürtigen Kroaten durchgebrannt war, weiß er, dass da mehr ist als nur Schwärmerei.“

Eventuell sind da beispielsweise zerrüttete Familienverhältnisse. Es hätte sich vermutlich gelohnt, zu recherchieren statt zu fabulieren. Doch weil auch der Polizeisprecher sagt: „Wir gehen davon aus, dass das Mädchen freiwillig bei ihm ist“, reicht es dem Autor davon zu schreiben, dass niemand wisse, „wo sich das ungleiche Paar versteckt“. Er geht also davon aus, hier bestehe ein gleichberechtigtes Liebesverhältnis zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. Das ist starker Tobak, selbst für die "Bild".

Mit keiner Silbe lässt sich Johannes Proft auch nur einmal auf die Befürchtung ein, der 28-Jährige könne seiner „verbotenen Liebe“ Ausdruck verleihen, indem er das in seiner Gewalt befindliche Mädchen vergewaltigt. Stattdessen suggerieren die zum Zeitpunkt der Online-Veröffentlichung beigefügten Fotos, hier vergnüge sich eine Frühreife mit ihrem Liebhaber.

Wie schon beim Namen haben die Verantwortlichen auch in dieser ersten Version der Galerie peinlich genau darauf geachtet, lediglich das Gesicht des 28-Jährigen unkenntlich zu machen. Bis zum Erscheinen eines Folge-Artikels am 6. Januar lächelte dort eine für Fremde, Freunde und Bekannte leicht zu identifizierende Elfjährige vom Bildschirm. 436 Personen haben diesen Artikel bisher auf Facebook empfohlen, nicht gezählt die Klickzahlen allein auf der Seite zuzüglich der gedruckten Auflage des Blattes.

Rein menschlich betrachtet, verstößt Johannes Proft gegen jeglichen Anstand. Man kann nur spekulieren, ob er zu faul, zu dumm oder rein fachlich nicht in der Lage war, objektiv und auf das Wohl des Kindes bedacht zu recherchieren und zu formulieren.

Und auch aus Sicht des Presserates betrachtet, verstößt er gegen wenigstens drei Artikel des Pressekodex. 4.2: „Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen ist besondere Zurückhaltung geboten. Dies betrifft vor allem Menschen, die ... einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind, aber auch Kinder und Jugendliche.“ 8.1: „Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz.“ 11.1: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen ... körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.“ Die "Bild"-Zeitung ist nicht bekannt dafür, den Pressekodex sonderlich ernst zu nehmen, was umso bedauerlicher ist für das Kind.

Denn die elfjährige Lisa kann sich nicht wehren - nicht gegen aufdringliche Journalisten, gegen Eltern, die lieber die "Bild"-Zeitung als die Polizei zu Rate ziehen, nicht gegen hämische Mitmenschen, die gelesen haben, was Johannes Proft Kraft seiner Wassersuppe in die Gedanken- und Gefühlswelt einer Elfjährigen hinein projiziert.

Die Geschichte von der Leipziger Lolita ist in der Welt. Da nützt es auch wenig, dass nun für die Folgegeschichte vom 6. Januar - der mutmaßliche Entführer und sein Opfer wurden in Berlin von der Polizei gefasst - der Autor ausgetauscht, Bilder endlich unkenntlich gemacht und Namen abgekürzt wurden. Denn auch Autor Uwe Schneider kann es sich nicht verkneifen, noch einmal darauf hinzuweisen: „Ihr Vater war überzeugt: ... Das Mädchen hatte sich offenbar in den wesentlich älteren Mann verliebt. Auch er gestand ihr seine Liebe in einem Brief. Als Lisas Vater seiner Tochter den Umgang mit Mario F. verbieten wollte, tauchte sie ab und floh zu dem Mann.“

Väter haben nämlich immer Recht. Immerhin in Klammern erwähnt der Journalist diesmal die Gefahr eines Kindesmissbrauchs. Einen Absatz am Ende des Textes ist ihm die Ermittlungsarbeit der Polizei wert.

Beide Autoren und mit ihnen die Verantwortlichen in den Redaktionen haben auf diese Weise wissentlich dazu beigetragen, ein minderjähriges Opfer mittels ihrer Berichterstattung noch einmal zu missbrauchen, zu traumatisieren und zu stigmatisieren. Beide Artikel lassen für den Leser nur einen Schluss zu: Wenn das Kind freiwillig mitgeht, dann hat es doch auch alles andere gewollt.

Interessant wäre zu erfahren, welche Schlüsse Johannes Proft und Uwe Schneider gezogen hätten, wäre nicht die Fantasie mit ihnen durchgegangen, wäre das Kind ein Junge gewesen oder ein Mädchen aus geordneten Verhältnissen, nicht geschlagen mit einem Vater, der ein sehr krudes Verständnis von Liebe und Fürsorge zu pflegen scheint. Vermutlich hätten sie dann sehr schnell gewusst, welche journalistischen Hebel der üblichen "Bild"-Jagd auf Kinderschänder, vermeintliche und tatsächliche, sie zu bedienen gehabt hätten.

Lisa jedoch hat es ihnen zu leicht gemacht.

10 Kommentare
  • habra
    Januar 9, 2012

    Verantwortungslos! Unmoralisch! Dumm!

    Und da wundert es Boulevardjournalisten, dass man gegen ihre Gattung wettert? Ich sage nicht, dass aller Boulevard schlecht oder schlechter Journalismus ist, aber der Negativbeispiele gibt es überraschend viele.

    Dieses Beispiel, sowie das Beispiel des Suizids in der Neujahrsnacht (http://www.flurfunk-dresden.de/2012/01/03/ohne-worte-xi-nachrichten-skrupellos/) zeigen, dass gewisse Blätter ihre moralischen Grenzen gründlich überdenken sollten!

    ich hoffe eine Beschwerde liegt schon beim Presserat!

  • Andreas
    Januar 9, 2012

    "Beide Autoren und mit ihnen die Verantwortlichen in den Redaktionen haben auf diese Weise wissentlich dazu beigetragen, ein minderjähriges Opfer mittels ihrer Berichterstattung noch einmal zu missbrauchen, zu traumatisieren und zu stigmatisieren."

    NOCH EINMAL zu missbrauchen??? Sagt mal, geht's eigentlich noch bei Euch?! Kein Deut besser als die Bild!

  • Besucher
    Januar 9, 2012

    Ich bin mir nicht klar, was dümmer ist. Kommentar oder Bild.

  • Christina Wittich
    Januar 10, 2012

    @Andreas Warum kein Deut besser?
    @Besucher Bild. Eindeutig.

  • stefanolix
    Januar 10, 2012

    Ich störe nur ungern, sehr geehrte Frau Wittich, aber vielleicht darf ich Ihren Blick auch auf die Fehler der »Sächsischen Zeitung« lenken? Sie finden hier im Flurfunk auch den am häufigsten aufgerufenen Artikel des Jahres 2011:

    http://www.flurfunk-dresden.de/2011/09/14/sachsische-zeitung-die-verlorene-ehre-des-lehrers-jorg-kulesa/

    Der Artikel befasst sich nicht mit BILD, sondern mit der SZ aus Dresden. Sie hat bis heute nicht reagiert:

    http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=2853149

  • owy
    Januar 10, 2012

    @stefanolix Christina ist Freie Journalistin und arbeitet u.a. auch für die "SZ". Ich denke mal nicht, dass sie sich hier oder anderswo öffentlich zu dem Pirna-Thema äußern wird. Ich finde auch nicht, dass man sie für eine Geschichte wie die aus Pirna zur Rechenschaft ziehen sollte.

  • Christina Wittich
    Januar 10, 2012

    @owy Wie auch, ich hab sie nicht geschrieben.
    @stefanolix Wenn Sie eine Reaktion des verantwortlichen Redakteurs haben wollen, ist es oft ratsam, sich direkt an die Redaktion zu wenden. Ich habe es bisher weder bei der Bild noch bei der Sächsischen Zeitung, DNN etc. erlebt, dass sich Redakteure in der Kommentarspalte eines Blogs zu ihren Geschichten äußern, unabhängig davon, wie berechtigt oder unberechtigt die Kritik daran ist. Die Kommunikation mit dem Leser funktioniert bei den klassischen Medien immer noch klassisch über Leserbriefe oder eben direkt. Betroffene haben selbstverständlich noch andere Möglichkeiten, ihr Recht einzufordern.

  • stefanolix
    Januar 11, 2012

    Ich hatte im Hinterkopf gespeichert: Christina Wittich bloggt für die Kulturredaktion der »Sächsischen Zeitung«, z.B. anhand dieser Meldung. Eine freie Mitarbeiterin ist selbstverständlich von der Kritik an der »Sächsischen Zeitung« ausgenommen.

    Allerdings steht in dem verlinkten Flurfunk-Artikel und in den Kommentaren auch eindeutig, wie viele Versuche unternommen wurden, um den Artikel richtig zu stellen. Die Redaktion wurde mehrfach kontaktiert. Es war ja sogar ein Vertreter der »Sächsischen Zeitung« in dieser Pirnaer Schule. Vor diesem Hintergrund ist es nicht hinzunehmen, dass der Artikel mit dem Namen des Lehrers immer noch im Netz steht.

  • ronin_bea
    Januar 11, 2012

    Kritik an der Berichterstattung der Bild und anderer Medien ist durchaus berechtigt und absolut notwendig.
    Ich möchte den Bild-Artikel nicht schön reden aber leider begibt sich der Kommentar auf genau das von Ihnen kritisierte Niveau. Klar handelt es sich um einen Kommentar aber auch diese sollten mit einem gewissen Grundstock von Wissen über den kommentierten Fall geschrieben werden. Man käme fast auf die Idee, es handelt sich um einen Referenztext für eine Bewerbung bei Springer. Ihre Recherche zu dem Thema hörte ganz offensichtlich beim Lesen der Bild-Artikel auf. Dann haben Sie die üblichen BILD-Kritik-Hebel bedient und fertig war das gewollte Urteil. Schnell noch Kommentar drüber schreiben, fertig.
    Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass es sich bei der Geschichte um Kindsmissbrauch, Vernachlässigung elterlicher Aufsichtspflichten und um schlampige polizeiliche Ermittlungen handelt? Käme es eventuell in Frage, dass die Redakteure auch in diese Richtung dachten, aber die Faktenlage dagegen sprach? Aber nein, es widerspräche ja dem gängigen Klischee der Weltverbesserer, das der grundböse Bild-Mitarbeiter sowas nicht macht. Mit welchem der Betroffenen haben Sie gesprochen, um zu Ihrer Meinung zu kommen? Den ermittelnden Beamten, den Eltern, dem Kind, dem Entführer? Die Quellen, mit denen die Bild „Kraft ihrer Wassersuppe“ redete – Vater und Polizei – werden von Ihnen als unglaubwürdig und nicht zurechnungsfähig stigmatisiert, ohne auch nur ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben.
    Stattdessen bemühen Sie sich redlich die Berichterstattung zu kritisieren, indem Sie versuchen die gängigen Kinderschänderklischees in Gang zu bekommen und den Mann als Kinderschänder vorzuverurteilen. Selbstverständlich wissen Sie, dass der Entführer das Mädchen in seiner Gewalt hat, sie missbraucht, traumatisiert und stigmatisiert hat, bevor gleiches dann nochmal die Bild-Redakteure machten. Außerdem muss der böse Vater, den Sie nie zu Gesicht bekommen haben auch noch eins mitbekommen.
    Immerhin versuchen Sie im besten Boulevardniveau ihre mangelnde Kenntnis und fehlendes Wissen zu dem Fall durch Worthülsen wie „scheint“, „eventuell“, „offenbar“, „vermutlich“ zu kaschieren!

    Unabhängig davon wurde der Name des Kindes höchstwahrscheinlich voll ausgeschrieben, weil sie von der Polizei – in ihrer schlampigen Art - zu eben jenem Zeitpunkt mit eben jenem Namen und Foto per Öffentlichkeitsfahndung gesucht wurde. Dafür spräche, das der Name abgekürzt und das Foto geblendet wurde, nachdem sie gefunden wurde.
    Mit derartig unsachlicher, lediglich darauf bedachter Kritik, die bild-ist-so-böse Reflexe zu bedienen, erweisen Sie der Sache einen Bärendienst. Schauen Sie mal bei BILD-Blog vorbei. Da wird gezeigt, wies geht: Mehr Recherche, weniger Meinung.

  • Andreas
    Januar 15, 2012

    "Stattdessen bemühen Sie sich redlich die Berichterstattung zu kritisieren, indem Sie versuchen die gängigen Kinderschänderklischees in Gang zu bekommen und den Mann als Kinderschänder vorzuverurteilen."

    Genau das meinte ich auch. Leider kein Deut besser.

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