Wie der Tagesspiegel einmal einen Nazi als glaubwürdigen Kronzeugen präsentierte…

Ich komme bei der Bericherstattung über die Vorgänge im Landratsamt Bautzen gerade nicht mehr mit:

Um zu belegen, dass der Vize-Landrat aus Bautzen angeblich viel länger mit einem Nazi gesprochen hat als er zugeben will, spricht der Tagesspiegel (Titel: "Im Landratsamt Bautzen gehen Neonazis ein und aus", Autor: Matthias Meisner) ausgerechnet mit:

einem Nazi?!?

Nicht missverstehen: Ich halte einen Amtsträger, der Menschen mit rechtsextremer Ideologie als gleichwertige Gesprächspartner betrachtet, für mindestens problematisch. Darüber muss natürlich berichtet werden!

Aber dass der Tagesspiegel bei den nun neu aufgekommenen Vorwürfen ausgerechnet einen Nazi als Kronzeugen präsentiert, ohne auch nur im Ansatz dessen Motive für sein Vorgehen zu thematisieren oder sogar zu hinterfragen – das ist schon... bemerkenswert.

Was sind die Motive der NPD-Vertreter?

Schon bei der ursprünglichen Berichterstattung über das erste Treffen des Bautzner Vize-Landrats mit einem NPD-Vertreter verwunderte, warum kein Medium so richtig anspricht, wie die (offenkundig bewusst gekürzten) Chatverläufe in die Öffentlichkeit gekommen sind.

In wessen Interesse war es denn, den Chat öffentlich zu machen? Welches Ziel wurde damit verfolgt?

Warum stellt der Tagesspiegel in dem aktuellen Weiterdreh nicht die Frage, was wohl das Motiv des neuen NPD-Kreisvorsitzenden sein könnte, sich als gleichwertigen Gesprächspartner, der lediglich die "Wahrheit" verbreitet, in den Medien zu präsentieren? (Eine Frage, die man sich übrigens auch gern mal im Landratsamt  stellen darf – warum man NPD-Vertreter eben nicht so aufwerten sollte!)

Und ich frage mich: Warum bekommt der Nazi diese Präsentationsfläche von einem Medium wie dem Tagesspiegel?

 

Ist das seriöser Journalismus?

Beim MDR-Bericht zum Vorgang ("Bautzener Vize-Landrat spricht auch mit neuem NPD-Chef") kann man wenigstens noch wohlwollend hinein interpretieren, dass man dort vorsichtig mit den Aussagen des Nazis umgeht; die Darstellung in SZ-Online geht zum Glück deutlich differenzierter mit dem Vorgang um ("Neue Vorwürfe gegen Udo Witschas").

Und doch bleiben die Fragen:

Warum liest man in den Geschichten nichts über die Strategie der Nazis, eben trotz ihrer menschenverachtenden Ideologie und dem Wunsch, das System grundlegend zu verändern, sich als vertrauenswürdige und gleichwertige Gesprächspartner zu geben?

Warum klären die regionalen Medien so wenig darüber auf, warum das so ein Problem ist, dass ein hoher Amtsträger mit einem Nazi spricht – sondern skandalisieren wieder nur?

Warum stellt keiner der Medienvertreter fest, dass es für die Nazis (wie für andere Politiker übrigens auch) ein Fest ist, einen hohen Amtsträger zu Fall zu bringen?

Und: Wenn es Grund zu der Vermutung gibt, dass der Vize-Landrat über die Dauer des Gesprächs die Unwahrheit sagt – ist wirklich kein Medienvertreter in der Lage, eine andere Quelle aufzutreiben (und zu benennen), um diese angebliche Lüge zu belegen?

Ehrlich: Diese Form der Skandalisierung nach dem Motto: "Der Zweck heiligt die Mittel" schadet unserer Gesellschaft.

Dass Medien Sachverhalte nicht erklären und differenziert darstellen, ist in meinen Augen einer der Gründe, warum manche Leute heutzutage "Lügenpresse" schreien.

Hier mal zwei weiterführende Hinweise zur NPD-Strategie:  

sueddeutsche.de: "Erfolgreiche rechtsextreme Kümmerer" (vom 3.11.2014).

Buch: "Neonazis in Nadelstreifen. Die NPD auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft"

2 Kommentare
  • mob
    September 15, 2017

    hmm, so richtig verstehe ich die kritik am artikel nicht. ist es jetzt verwerflich, dass der autor bei dem npd-typen nachgefragt hat?

    ich glaube wenn man sich die bisherige arbeit von matthias meisner anschaut, dann sollte man keine bedenken haben, dass er auf irgendwelche npd/nazi-strategien reinfaellt. ganz im gegenteil glaube ich, dass er ziemlich genau weiss, wovon er schreibt und kann das auch einordnen.

  • Stachel
    September 16, 2017

    Zur Erinnerung: Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist die NPD als verfassungsfeindlich einzustufen. Das Gericht hat die NPD dennoch nicht verboten, weil die Partei zu unbedeutend ist. Das kann sich dank Matthias Meisner und seinen Medienkollegen schnell ändern. Insofern stellt Flurfunk die richtigen Fragen.
    Die Witschas-Affäre könnte ein unterhaltsames Schauspiel sein, wenn es nicht so traurig wäre: Ein naiver Vize-Landrat und kaum minder naiv agierende Medien, ein halbherzig handelnder Landrat, eine Kreis-CDU, die sich in das Innere einer Wagenburg zurückzieht und ein Parteivorsitzender der das tut, was er am besten kann - erst mal zuschauen. Und wer ist Gewinner dieser Aufführung? Richtig, die Menschenfeinde, genannt NPD.

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