#Halle: Der Breaking-News-Wahn der Medien

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Von Peter Stawowy und Lucas Görlach

Ja, klar, es hat was reflexhaftes, wenn wir als Medienjournalisten unmittelbar nach einem Ereigniss wie das gestern in Halle die Arbeit der Medien kommentieren.

Andererseits scheint es doch eine gewisse Entwicklung zu geben, was die mediale Begleitung solcher Ereignisse - oder sollte man es die mediale Jagd nach der Neuigkeiten nennen? - betrifft.

Denn: Wenn man es genau betrachtet, gab es seit den ersten Meldungen ab 12.48 Uhr (erster Tweet der Polizei in Halle) und den kurz darauf bekanntwerdenden Details keine wirkliche Entwicklung und nur wenige neue Erkenntnisse. Zahlreiche Medien setzten online auf das Instrument Ticker – das große Vorteile mit sich bringt, weil nicht jedes Mal der aktuelle Erkenntnisstand neu transportiert werden muss.

Andererseits führt die journalistische Unart, Nachrichten unbedingt zuerst haben zu wollen, zu teilweise unterirdischen Auswüchsen.

Im Folgenden geben wir hier einige Eindrücke wieder, die wir im Laufe des gestrigen Tages (9.10.2019) gewonnen haben.

 

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MDR: angemessen bis vorbildlich

Fangen wir positiv an: Die Berichterstattung des MDR war alles in allem angemessen bis vorbildlich.

Eine erste Sondersendung im TV-Programm bringt schnell auf den Punkt, wie die Informationslage ist - was man weiß und was nicht – wie die Zahl der Täter und zum Zeitpunkt der Berichterstattung deren Ziele. Online startet ein Live-Ticker und das Radio-Programm informierte laufend.

Es finden sich aber auch unnötige Ausreißer in der MDR-Berichterstattung:

Der Chef der Micro-Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, der bekanntlich auf Kommando druckreife Sätze sagen kann, darf (nicht nur im MDR) ungezügelt und überwiegend im Konjunktiv spekulieren (sinngemäß: "Das sieht schon nach professioneller Ausrüstung aus, das lässt auf einen rechtsextremistischen Hintergrund schließen") - dabei kann er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Informationen haben als andere!

Ein anderer Tiefpunkt: Im Radioprogramm von MDR aktuell darf ein vermeintlicher Zeuge aus Wiedersdorf, einem Ortsteil von Landsberg, ans Mikro, der wilde Spekulationen aus dem lokalen WhatsApp-Chat zum Besten gibt – die sich später als wahr herausstellen. Aber warum?

Prominentere Ziele?

Die Anmerkung eines Radio-Moderators im Interview, dass es doch sicherlich prominentere Ziele als Halle an der Saale gäbe ("Warum eigentlich Halle an der Saale? Die Synagoge in Halle an der Saale. Wenn man öffentlichkeitswirksam etwas unternehmen wollte, gewaltsam, da gäbe es sicherlich prominentere Ziele"), thematisieren wir hier mal nicht weiter. (Hier nachzuhören bei 1:52).

Obwohl, doch, ein kurzer Kommentar: unterirdisch!

Auch im Live-Ticker kommt ein Anwohner im Video zu Wort, der von mehreren Journalistinnen und Journalisten nach dem Mord, den er kurz zuvor beobachtet hat, befragt wird (hier das Video beim MDR). Zwischendurch sagt er zu den Nachfragen: "Also, ich bitte sie..."

Bringt uns zu der Frage: Muss man sowas zeigen? Das Video bestätigt immerhin die Information, dass der Täter in Polizei-ähnlicher Kleidung unterwegs war.

Aber das war es aus unserer Sicht auch schon an Kritik an der MDR-Berichterstattung. Ansonsten: nicht sensationsheischend und mit der immerwieder wiederholten Aufforderung, zu Hause zu bleiben, an den Bedürfnissen vor allem der Menschen im Sendegebiet orientiert, die sich ja durchaus als gefährdet betrachten konnten. Dickes Lob.

Andere Medien dagegen handhaben das Ereignis ganz anders.

Woher ist das Foto? Können wir das nutzen?

Ein Twitter-User, dessen Profil faktisch keine Informationen über die dahinter sitzende Person preisgibt, postet kurz nach Bekanntwerden ein Foto, das möglicherweise den Täter von oben fotografiert zeigt. Möglicherweise!

Darunter sammeln sich innerhalb kürzester Zeit Fragen von Medienvertretern aus der ganzen Welt.

Die Nachfrage, woher das Foto stamme und ob es echt sei - ja klar, gehört sich so. Aber wenn der oder die Nutzerin dahinter selbst nicht weiß, woher es stammt...? Dann könnte es doch zumindest theoretisch eine bewusste Täuschung sein!

Das Foto ist kurz nach Erscheinen – nicht nur dort – auf LVZ.de zu sehen. Es wird das Bild in den Köpfen der Nachrichtenkonsumentinnen und -konsumenten über den Tag prägen.

LKA-Mitarbeiter im Einsatz

Überhaupt, die Sucht nach Bildern: Die dpa verbreitet ein Foto, auf dem zwei Polizisten in voller Montur (mit Gesicht!) im Einsatz zu erkennen sind. Das Foto findet in der Berichterstattung von zahlreichen Medien einen Platz.

Muss man das heutzutage noch kommentieren? Wir lassen mal einen Tweet von einem bekannten Journalisten sprechen:

Die AfD-Frage: Deutscher? Oder Ausländer?

Welche Rolle spielt unmittelbar nach dem Ereignis, um kurz nach 14 Uhr, die Herkunft des oder der Täter? Wir können ja mal diskutieren, welche Rolle Medien beim Schüren und Verbreiten von Rassismus spielen...

Für N-TV offenbar eine große - da wird ein Zeuge live gefragt, ob er dazu Angaben machen kann (der Screenshot ist zum Tweet mit dem Videoschnipsel verlinkt).

Da ist er noch so klug – obwohl vermutlich unter Schock! – der jungen Frau mit Mikrofon (Journalistin?) über Medien aufzuklären und sagt: "Ich möchte keine falschen Spekulationen verbreiten..." und "meine Erinnerungen waren wirklich sehr kurz, das war nur eine Sekunde" - um ihr dann doch in die Falle zu tappen und zu verkünden: "ich meine, dass er eine weiße Hautfarbe hatte".

Was war noch mal die Funktion von Medien? Spekulationen verbreiten, richtig? (Achtung, Ironie!)

Oder anders gesagt:

"Täter wird von Polizei bei Leipzig gejagt"

Aber auf der Jagd nach Breaking News und Futter für die gierigen Ticker bleibt nicht nur der Anstand, sondern vor allem die Gründlichkeit auf der Strecke. Irgendwann sieht sich die Polizei Sachsen genötigt, Spekulationen entgegenzutreten, einer oder mehrere Täter könnten in Leipzig unterwegs sein.

Zu dem Zeitpunkt vermutlich nicht so vielen Personen bekannt und uns auch nur mündlich bzw. bei Twitter berichtet:

Offenbar kursiert zu diesem Zeitpunkt gerade eine WhatsApp-Ketten-Nachricht, in der eine Stimme davor warnt, die Täter seien in Delitzsch (Stadt nördlich von Leipzig) oder im Leipziger Norden unterwegs. Die Botschaft wirke auch deswegen authentisch, weil Funkgerät-Geräusche im Hintergrund zu hören seien.

Die Information ist aber falsch, informiert die Polizei Sachsen um 16.26 Uhr!

Aber: Auch, wer die WhatsApp-Info zu dem Zeitpunkt nicht hat, könnte denken, der/die Täter ist/sind in Leipzig unterwegs.

Denn LVZ.de hat seit 14.43 Uhr die Schlagzeile auf der Seite:

Es folgt also gegen 16.30 Uhr das Dementi der Polizei – zu der Zeit hatten aber bereits diverse Medien berichtet, dass die Info nicht stimmt.

Kurz nach 17 Uhr ist bei LVZ.de aber immer noch zu lesen:

Irgendwann, nachdem reichlich bekannt ist, dass Leipzig nicht das Ziel der Täter ist, wird es uns selbst zu bunt - und wir pingen die LVZ-Redaktion auf Twitter an.

Und wie lautet die Schlagzeile am gleichen Abend um 23.40 Uhr? Richtig!

Ehrlich: Ist schon klar, dass längst aktuellere Beiträge auf LVZ.de erschienen sind, dass es einen Ticker gibt, dass es zu wenig Leute im Team und was weiß ich alles gibt - aber echt jetzt, Leute? ECHT!?

Ein Täter? Mehrere?

Um 18 Uhr herum melden einzelne Medien, es habe sich um einen Einzeltäter gehandelt - und da bekannt ist, dass es am Mittag eine Festnahme gab, könnte man darauf schließen, dass die Gefahrenlage vielleicht vorbei sein könnte.

Sorry, werte Kollegen von der LVZ  - ihr müsst noch mal ran:

LVZ.de schreibt (Screenshot von 18.30 Uhr) unter dem Titel: "Attentat in Halle: Was wir wissen und was nicht" im ersten Satz:

"Bewaffnete Täter haben in Halle/Saale zwei Menschen erschossen."

Es macht sprachlos: Genau das weiß man doch offenkundig nicht, dass es mehrere Täter waren!

Wenigstens wird im Laufe des Textes informiert:

"Nach Angaben der Polizei waren mehrere bewaffnete Täter mit einem Auto auf der Flucht. Am frühen Nachmittag meldete die Polizei dann die Festnahme einer Person. Weitere Fahndungsmaßnahmen liefen."

Um dann im letzten Absatz (Zwischenüberschrift: "Was wir nicht wissen") zu schreiben:

"Offen ist, wie viele Täter es genau gibt und wie viele noch auf der Flucht sind. Die Polizei spricht von mehreren Tätern. Die 'Mitteldeutsche Zeitung' aus Halle zeigte ein Foto, auf dem ein dunkel gekleideter Mann mit Helm und Stiefeln zu sehen ist, der ein Gewehr im Anschlag hat. Der MDR zeigte ein Video, auf dem womöglich derselbe Mann aus einem Auto aussteigt und mehrfach seine Waffe abfeuert. Die Identität des Tatverdächtigen und wann und wo er genau festgenommen wurde, ist nicht bekannt."

Und nein, dass andere wie etwa der ARD-Brennpunkt zu späterer Zeit auch von mehreren Tätern sprechen, macht den kapitalen Fehler im allerersten Satz nicht besser.

Burgenland? Oder Burgenlandkreis?

Wir könnten diese Aufzählung jetzt noch eine ganze Weile fortführen - beschränken uns aber auf nur wenige Tiefpunkte.

Den hier zum Beispiel: Burgenlandkreis oder Burgenland? Das eine Gebiet liegt in Sachsen-Anhalt (für Außenstehende: dem Bundesland, in dem auch Halle liegt), das andere in Österreich.

Bringt die FAZ im Eifer des Breaking-News-Rauschs dazu, den Täter kurzzeitig aus Österreich stammen zu lassen!

Täter zeigen oder nicht?

Noch so ein Thema - diverse Boulevard-Medien zeigen den Täter und nennen den Namen. Spätestens seit Christchurch sollte die Gefahr, Nachahmer zu animieren, eigentlich auch in deutschen Medien angekommen sein. Aber, ach...

Mehr Ruhe und professionelle Distanz

Ein Kollege fasste die Berichterstattung so zusammen: Eigentlich ging es den ganzen Tag "nur" um die Ereignisse, die seit 13 Uhr bekannt waren. Für die vielen Ticker und Live-Medien und den Geschwindigkeitsrausch im Kopf manch medienschaffender Person musste aber ständig neues Futter ran - da passieren Fehler.

Wenn die Polizei dann um 15 Uhr noch bestätigt, dass es Schüsse bei Landsberg gab, was auch seit 13 Uhr bekannt war, springen die Medienvertreterinnen und -treter halt noch mal darauf und die Empörungs- und Sensationsspirale wieder an.

Das könnte anders laufen - Ziel sollte sein, die Anwohnerinnen und Anwohner zu informieren und ansonsten sachlich und distanziert zu berichten. Denn der Wunsch, als erster die "Beaking News" zu liefern, ist aus unserer Sicht längst überholt und für die Glaubwürdigkeit und das Standing von Medien nicht förderlich. Im Gegenteil.

Positive Entwicklung erkennbar

Genug jetzt. Steigen wir lieber positiv aus - den an einzelnen Beispielen ist zu erkennen, dass nicht mehr alle Medien dem Breaking-News-Mist hinterherrennen:

Spiegel-Online brachte am Abend ein einfühlsames Stück von einer Autorin mit jüdischem Hintergrund - richtig so! Denn die Betroffenen gehören in den Vordergrund der Berichterstattung, nicht die Täter. Hier nachzulesen: "Ausgerechnet Jom Kippur".

Und das ZDF-Heute-Journal-Team entschied sich einfach, das Täter-Video nicht mitzuverbreiten - was ja nicht bedeutet, dass man nicht darüber berichten muss! Der negative Effekt aber, dem Täter und seinen Absicht eine Plattform zu bieten, überwiegt klar gegenüber dem öffentlichen Interesse, mehr über seine Motive zu erfahren.

Das nennt man dann aus journalistischer Sicht: Verantwortung übernehmen. Glückwunsch zu dieser Entscheidung.  

1 Kommentar
  • Roswitha Kapser
    Oktober 13, 2019

    Das ganz erinnert mich sehr stark an die Berichterstattung beim Amoklauf im Juli 2016 in München. Ich hatte eigentlich gehofft, dass alle Medienschaffenden, und nicht nur einzelne, daraus etwas gelernt hätten. Nun, da hab ich mich wohl geirrt. Ich möchte jedoch den schwarzen Peter nicht nur den "Medien" zuschieben. Auch wir als Nutzer dieser Medien, vor allem Online-Medien wie Twitter, müssen uns an die eigene Nase fassen. Wollen wir nicht immer die neuesten Infos, und das sofort? Sind wir es nicht, die bei diesen tragischen Ereignissen stundenlang vor dem TV sitzen und von einem Sender zum nächsten schalten, damit uns ja nichts entgeht? Ja! Es ist wohl beides: Das Angebot und die Nachfrage. Es ist die ewige Frage: Was war zuerst da, Huhn oder Ei? Dennoch sind es die Medienmacher und Journalisten, die die Fachleute sind und sich in ihrem Business auskennen sollten. Wir als User können nur das konsumieren, was uns angeboten wird. Ich hoffe, dass alle Medienvertreter und wir als User unsere Gier nach schnell-schnell ganz schnell in den Griff bekommen.

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