Die Rückentwicklung des Menschen

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Eine Kolumne von Stephan Zwerenz.

Während sich Jugendliche vor Züge werfen, um gegen VW und die Klimapolitik zu demonstrieren, schwingt sich eine andere Gesellschaftsschicht auf E-Scooter, um angeblich aufs Automobil zu verzichten.

Aber mal ehrlich: Gibt es wirklich Menschen da draußen, die mit den elektrischen Tretrollern Strecken zurücklegen, die sie sonst nur im klimatisierten SUV fahren würden? Gibt es wirklich Leute, die glauben, damit die Umwelt zu retten?

Wie bei den meisten Produkten, die Nachhaltigkeit versprechen, steckt auch im E-Roller – wenn überhaupt – nur eine nachhaltige Geschäftsidee, durch die uns ein gutes Lebensgefühl verkauft werden soll. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gibt zu bedenken, dass die meisten Roller bereits nach wenigen Monaten wieder aus dem Verkehr gezogen werden müssten und auch die Herstellung der Akkus keinesfalls als umweltfreundlich zu bezeichnen wäre.

Ein Hauch von Fun-Factor

Letztlich ist die Benutzung der ollen Scooter also am Ende nur die hippere Art der Fortbewegung. Ein falsches Urlaubsgefühl gepaart mit einem Hauch von Fun-Factor, der dem müden Arbeiter wieder lehrt, ein bisschen Freude im tristen Lebensalltag zu entdecken.

Das ist wie Buggyfahren am Strand oder eine Tour auf dem Banana-Boot. Für die einen ist es eine tolle Sache, für die anderen so überflüssig wie Fußpilz.

Die Innenstädte werden zugemüllt, Roller unachtsam auf Radwegen abgestellt oder in Fußgängerzonen umgestoßen liegen gelassen. Der ohnehin schon schwindende urbane Lebensraum scheint durch das unbenutzte Fahr-Zeug, nun noch kleiner zu werden.

Als wäre es mit den Automobilen nicht schon genug des Guten. Unsere Wahrnehmung blendet zwar den Großteil der Blechlawinen aus, die unsere Innenstädte füllen, aber glauben Sie mir: Sie sind immer noch da draußen! Und es sind viele!

Fortbewegungsmittel der letzten Meile

Doch was sagen eigentlich die verschiedenen Stadtregierungen dazu? Die begrüßen vor allem die Verwendung von E-Rollern als „umweltfreundliche und innovative Mobilitätskonzepte zur Personenbeförderung“ (Hamburg, M. Westhagemann) und prophezeien, dass „diese Form multimobiler Fortbewegung […] die Attraktivität des Umweltverbunds weiter steigern [kann].“ (Stadt Dresden, PM)

Immer wieder wird die Hoffnung bekräftigt, dass der Straßenverkehr abnimmt. Studien und Erfahrungen aus anderen europäischen oder US-amerikanischen Städten werden aber zumindest in offiziellen Stellungnahmen nicht zurate gezogen.

Dafür taucht immer wieder die Formulierung auf, der E-Scooter sei das Fortbewegungsmittel für die „letzte Meile“, also für den Weg vom Bus, der Tram oder dem Auto nach Hause.

Im Durchschnitt werden nämlich nur 1,9 km mit den Rollern zurückgelegt, was einem Fußweg von etwas weniger als einer halben Stunde entspricht. Insofern ist der E-Scooter also eher die Alternative zum Fahrrad als zum Automobil.

Bei der „letzten Meile“ denke ich ja eher an Stephen Kings „The Green Mile“. Da ging es aber um den letzten Gang, den Häftlinge über einen limettenfarbenen Flur zu ihrer Hinrichtung gehen mussten.

Hätten sie in den 30er Jahren schon E-Roller von Lime gehabt. John Coffey hätte zu seiner eigenen Hinrichtung fahren können. Natürlich auf den elektrischen Stuhl.

Das Sitzen als Daseinsform

Aber mal ernsthaft. Evolutionär scheinen wir uns zurückzuentwickeln, wenn wir mit Technik alles ersetzen, was wir leicht auch durch Muskelkraft bewegen könnten. Man denke nicht nur an E-Roller und E-Bikes, sondern auch an elektrische Pfeffermühlen und Zitronenpressen oder an den digitalen Häppchen-Zähler.

Scheinbar will sich unsere Gesellschaft aus einer gewissen Trägheit heraus nicht mehr selbstständig bewegen. Das Sitzen ist zur eigentlichen Daseinsform geworden. Vom Bürosessel in den Fahrersitz, auf die Couch. Und dazwischen kann uns der E-Scooter die unerträglich lange Zeit der analogen Fortbewegung verkürzen.

Dabei würde es einer Gesellschaft, deren häufigste Todesursache Herz-Kreislauferkrankungen sind, eigentlich ganz gut tun, sich etwas mehr zu bewegen.

Wie die Hirnforschung zeigt, hätte Bewegung neben den gesundheitlichen Aspekten zudem noch den positiven Nebeneffekt, dass unsere Gehirnleistungen zunähmen. Kognition kann nämlich erst aus der Stimulation unserer Sensomotorik heraus erwachsen. Wir brauchen also die Bewegung, um überhaupt denken zu können.

Geist vor Maschine

Friedrich Nietzsche brachte es wie immer auf den Punkt: "So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist."

Also lieber die Gelegenheit nutzen und beim nächsten Mal den Geist der Maschine vorziehen.

Den Benutzern von E-Rollern sei aber an dieser Stelle noch der Trost gegeben: Wenigstens bewegen sie sich im Freien und nicht im Sitzen.

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