Lückenjournalismus: Tichys Einblick lässt Teil der Wahrheit weg

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Ein schönes Beispiel für allerfeinste "Lückenpresse" und wie Berichterstattung genutzt wird, um ein einseitiges Bild zu zeichnen und die Stimmung weiter anzuheizen, liefert in diesen Tagen das Online-Magazin "Tichys Einblick":

Dort wird über einen Video-Auschnitt berichtet, der aktuell bei Twitter und YouTube kursiert, und der offenkundig bei einer verbotenen Demonstration von Corona-Maßnahmen-Gegnern in Weimar am 1.5.2021 entstanden ist. Titel der Geschichte vom 10.5.2021: "Thüringer DJV-Geschäftsführer redet sich raus: 'Ich bin nicht rechtzeitig weggekommen'".

Spoiler: Unser Screenshot mit dem roten Kringel (Markierung von uns) zeigt keinen Ausschnitt aus den Videos, die von Tichy und Co verbreitet werden. Es zeigt aber die gleiche Situation, wenige Sekunden vorher.

Spoiler II: Achtung, auch dieser Text hier ist keine wertfreie Dokumentation, sondern ein Meinungsbeitrag - aber offen und nicht platt manipulativ, wie es der Tichy-Text macht. 

Zur Sache: Hier ist die kurze (verkürzte) Fassung des Videos zu sehen, dass in einschlägigen Kreisen derzeit viel geteilt wird (bei Youtube seit 3.5. online): "Wer stellt absichtlich einen Demonstranten in Weimar das Bein? 01.05.2021".

Da ist zu sehen, wie ein Mann, der sich später als der Geschäftsführer des DJV Thüringen herausstellt, einem vor der Polizei flüchtenden Demonstranten offenbar ein Bein stellt - so, dass dieser zu Boden geht. Der gleiche Mann sagt später dem Filmenden auf Nachfrage in die Kamera: "Ich bin nicht mehr rechtzeitig weggekommen". Das ist angesichts des Bildmaterials schwer zu glauben.

Inzwischen ist bei YouTube auch noch eine "Langfassung" (besser wäre: etwas längere Fassung) des Vorgangs zu finden (bei YouTube seit 11.5.): "Ausführliche Version: Das Original Video von der Körperverletzung des Sebastian S.".

Vermeintliche "Recherche"

Screenshot von Tichys Einblick

Bei Tichys Einblick wird das "Beweismaterial" nun dazu genutzt, einen vermeintlichen Skandal herbeizuschreiben - und dafür hat sich der Schreiberling von TE fleißig ins Zeug gelegt:

"TE bekommt im Laufe der Recherche zum Übergriff von Sebastian Scholz zwei längere Filmsequenzen zugeschickt, aus denen das YouTube-Video offenbar geschnitten wurde",

raunt es da im Tichy-Text vom 10.5.2021.

Und weiter:

"Der gewalttätige Übergriff ist also dokumentiert."

Dass mindestens das erste kurze Video bereits seit einer Woche (3.5.) bei YouTube zu finden ist, steht da nicht.

Auch nicht, dass bereits seit 1.5. ein über 3-stündiger Live-Stream von der Demonstration in Weimar leicht im Netz zu finden ist.

Langfassung zeigt nur Teil des Geschehens

Diese ganz lange Fassung aber zeigt noch mehr Material von dem entscheidenden Moment, also, sagen wir besser: etwas mehr. Denn der angebliche Live-Stream ist offenbar auch nicht vollständig, sondern enthält Orts- und also Zeitsprünge (Schnitte? Unterbrechungen? Das wird nicht transparent).

In der sehr langen Fassung ist zu sehen, in welcher Situation der Vorgang mit dem Bein erfolgte. Da versuchen nämlich mehrere Polizisten, den später zu Boden gebrachten Mann (im Screenshot mit rotem Kringel, Kennzeichnung von uns) am gewaltsamen Durchbrechen der Polizeisperre zu hindern.

Der Demonstrant bekommt eine ordentliche Portion Tränengas ins Gesicht, schlägt wild um sich und schubst mehrere Polizisten weg, um dann die Flucht nach vorn anzutreten. Dabei wirft er noch einen Fotojournalisten brutal zu Boden. Um schließlich vom DJV-Vertreter zu Boden gebracht und an der Flucht gehindert zu werden und sich von einer Polizistin festhalten zu lassen.

Dann sagt der Demo-Filmer - der sich später im Video noch als "freier Journalist ohne Auftraggeber" (also wohl eher Aktivist) outet: "Dieser Mann hat gerade einem Demonstranten das Bein gestellt."

Er sagt nicht: "Dieser Mann hat gerade geholfen, einen Randalierer und gewaltsamen Demonstranten aufzuhalten."

Tichys Thesen-Bestätigungs-Berichterstattung

Was macht der Tichy-Bericht? Übernimmt den Frame des Videofilmers, ohne ihn zu hinterfragen – er passt ja so gut ins Bild, das man zeichnen will. Die Gewalttaten des Demonstranten gegen die Polizisten und Journalisten lässt der Text unter den Tisch fallen – als wäre es das normalste der Welt, bei einer Demonstration gewaltsam eine Polizeisperre durchbrechen zu wollen.

Wir kommentieren mal: Etwas mehr Distanz zum Geschehen und etwas weniger Skandal-Herbeischreiberei täte Tichys Einblick hier ganz gut. So ist das nur Thesen-Bestätigungs-Berichterstattung. Lückenpresse eben.

DJV-Thüringen wehrt sich

Der lange Stream von der Demo in Weimar ist auf einer privaten Webseite mit weiterem einschlägigem, tendenziösen Material (normalerweise verlinken wir so etwas nicht) unter dem Titel "Livestream aus Weimar, 1. Mai 2021" zu finden. Die entscheidende Stelle beginnt beim Timecode: 1:37:10. (Funfact: Auf der gleichen Internetseite ist auch ein Video von KenFM zu finden, in dessen Untertitel es heißt: „Massenmedien beschreiben nicht die Realität, sie erschaffen sie". Welche Ironie!)

Der DJV-Thüringen hat inzwischen eine Erklärung zu dem Vorgang veröffentlicht. Zitat:

"Wir, der Vorstand des DJV Thüringen, verurteilen die Art und Weise, wie hier selbsternannte Demokratieverteidiger die Fakten verdrehen und zur Gewalt gegen unseren Geschäftsführer anstacheln."

Hier nachzulesen: "Eine beispiellose Welle des Hasses".

Abschließend noch ein Hinweis an den rechercheunwilligen "Kollegen", der bei Tichy schreibt. Im Text wird - ebenfalls raunend - die Frage aufgeworfen, was eigentlich DJV-Vertreter auf solchen Demonstrationen machen, auf denen es inzwischen fast regelmäßig gewaltsame Übergriffe auf Medienvertreter gibt. Hier mal ein Rechercheansatz!

Transparenzhinweis: Ich bin Mitglied im DJV Sachsen und arbeite u.a. für ein "Massenmedium".

12 Kommentare
  • Neidhardt
    Mai 12, 2021

    Ein Abgrund. Unsere Zukunft? -
    Ich versuche, mir eine wohl noch jugendliche Existenz vorzustellen, die einen solchen Text hervorbringt. Grauen erfasst mich, ich sehe in einen Abgrund.

  • Hansi Müller
    Mai 12, 2021

    Herr Scholz ist als Journalist gewaltätig geworden. Er hat mehrer Schritte auf den Gegner zugemacht, um diesen umzutreten: widerlich.

    Egal wie man es dreht und wendet.

  • owy
    Mai 12, 2021

    @Neidhardt Hat er mich jung genannt? ;-)

    Das ist übrigens der Klassiker: Wenn man inhaltlich nicht angreifen kann, wird man persönlich und vielleicht beleidigend. Danke für das Kompliment!

  • Neidhardt
    Mai 12, 2021

    Herr Peter Stawowy,
    journalistentypisch (ich meine damit natürlich nicht das Genre etwa von Karl Kraus, Tucholsky, Riehl-Heyse, Aust, Klonovsky, Wendt ) ist wieder mal diese "woke" unbedingt übelwollende kognitive Dissonanz. Jugendlichkeit ist “vielleicht” eine Beleidigung – oder dann doch eher ein “Kompliment”? Wahr ist, dass ich dem Autoren gerne eine gewisse Nichtkenntnis zugutegehalten hätte.
    -
    Freilich, um einen Abgrund begehbar zu machen, reichen weder Argumente noch Bücher. Wo anfangen bei all den gutmeinenden Untertanen der Weltgeschichte, die gewissensmäßig so überaus befriedigend schon immer in formeller und informeller Kollaboration mit der Obrigkeit auf alle Andersdenkenden einprügelten, wo aufhören?

  • Alexander
    Mai 13, 2021

    Und der Geschäftsführer des Verbandes nimmt Anlauf und grätscht in einen flüchtenden Demonstranten - der war straffällig? Komisch, die bayrischen Beamten haben keine Festnahme vorgenommen - möglicherweise nicht mal die Personalien aufgenommen. Alleine deshalb sinnlose Aktion. Und sie verschweigen Homer die Szene, wo Scholz sagt, er sei nicht schnell genug weggekommen. Und in der Szene befragt Scholz den Filmer in Gegenwart der PO Presse - in welcher Funktion? Gibt keine. Als Privater als der er sich nachgereicht ausgibt hat er an dem Ort ( pressevertretung PO) nicht einmal etwas zu suchen Also bitte

  • Marco Jordan
    Mai 13, 2021

    Dass jedweder Journalismus inzwischen Teile "der Wahrheit" weglässt, andere Teile betont, oder gar aufbauscht, ist Zeitgeist. Der edle Gedanke der neutralen Berichterstattung ist wie die Sache mit den Grundrechten: schön, daß es sie gibt, aber allzu genau nehmen wir es damit besser dann auch nicht.
    Inzwischen outen sich ja selbst die Lieferanten der Leitmedien als "Haltungsjournalisten", wie z.B. Herr Restle. Tichyseinblick bedient dabei seine Leser genau wie "Monitor" seine Zuschauer, daran kann man sich allenfalls noch als Staatsrechtler aufreiben. Die Realität sieht eben so aus, daß selbst die journalistisch unverdächtige GALA für ihre Zielgruppe schreibt und dabei "dieses oder jenes" hinzufügt oder weglässt.
    Daß Leserinnen und Leser in diesen Zeiten kaum noch selbst wichten und werten können, kann man dem Journalismus nicht vorwerfen. Im Gegenteil: wer nach betreuter Meinungsbildung ruft, wird Propaganda bekommen. Die Institutionen wie Presseämter, und Parteien bereiten sich mit ihren "Newsroom"-Allüren genau darauf vor, nämlich ihren "Markt" zu bedienen und Meinungen aktiv zu bearbeiten. Eine Entwicklung, die sogar der DJV kritisch sieht.

  • M. Lange
    Mai 13, 2021

    Ich kritisiere hier zwar oft, heute muss ich mal loben! Das ist guter Medienjournalismus, Herr Stawowy (und hier auch in der besten Form des Kommentars, klar und deutlich), den ich lange vermisst habe. Endlich mal wieder richtige gesellschaftlich relevante Themen, die einer genauen Betrachtung bedürfen. Gern mehr davon, denn von Tichys Poltik-Aktivisten, die sich sich als Journalisten versuchen, gibt es inzwischen leider viel zu viele. Respekt und weiter so!

  • Arndt Noack
    Mai 13, 2021

    Zum ersten: es gibt diese Art von „Journalisten“ auf beiden Seiten des Spektrums. Da sind zum einen die Linken (von denen hier nie kritisch die Rede ist), die jede „rechte“ Veranstaltung mit der Kamera begleiten und danach Fotostrecken nach dem Motto „Wer wurde schon mal mit wem gesehen?“ veröffentlichen. Und da sind die anderen, die im Querdenken oder anderem Milieu klar eingefärbte tendenzielle Berichte veröffentlichen. Beide sind weit von einem journalistischen Standard entfernt.
    Zum zweiten: wenn der Geschäftsführer eines Journalistenverbandes, gar noch ausgestattet mit Helm, einer Veranstaltung welcher Art auch immer beiwohnt, so hat er, getreu seines Berufsstandes, Beobachter zu sein. Nicht Aktivist!

  • Peter
    Mai 14, 2021

    Ich finde es befremdent wie zielgerichtet und mit Anlauf er dem Demonstranten das Bein gestellt hat. Und mit welcher Routine und coolness er den Ort des Geschehens verlässt. Mir scheint es so, dass Herr Scholz hier nur auf seine Chance gelauert hat.

    Jounralistische Professionalität sieht anders aus.

    Letzentlich sollte ein Gericht entscheiden ob es sich um Körperverletzung oder um die Tat eines Hilfssheriffs handelt.

  • Alexander Wallasch
    Mai 15, 2021

    Ihr Spaßvögel ;)
    Der Pressesprecher der Polizei Thüringen hat bestätigt, ES GIBT KEINE KOOPERATION mit dem DJV - Hahahaha für ein Eigentor

  • Krippl
    Mai 15, 2021

    Herr Wallasch, was hat denn die Polizei Thüringen zu kommentieren, wenn ihre sächsischen KollegInnen mit dem DJV Sachsen kooperieren wollen? ^^

  • Henry
    Mai 25, 2021

    Leider gibt es keine vollständige Aufstellung über die staatlichen Zuschüsse für die staatlichen und staatshörigen Medien. Der größte Batzen sind die 8 Mrd. für die Öffis. Dazu kommen Fördermittel für alle möglichen gaaanz wichtigen Zukunftsinvestitionen. Die 500 Journalistenpreise sind auch ein ordentlicher Brocken. Nicht zu vergessen die als Anzeigen getarnten Geldflüsse. Und verschiedene Steuererleichterungen.
    Es dürfte sich auf über 10 Mrd. € pro Jahr summieren.

    Auf der anderen Seite die Alternativen, die zwar keine staatlichen Fördermittel erhalten, aber zum Ausgleich dafür ab und zu einen Prozess an den Hals gehängt kriegen, damit die Finanzschwachen noch mehr in die finanzielle Bredouille geraten.

    Insoweit freut es mich jedesmal, wenn die 10Mrd.-Abteilung sich couragiert gegen die Habenichts wehrt. Ganz großes Kino.
    Und wie der Flurfunk die Stellungnahmen seiner Freunde vom DJV recherchiert und couragiert verlinkt, also, da soll noch mal jemand Lückenpresse sagen.

    Da kann man schon mal übersehen, dass der ganze Text vor Schwurbeleien und Doppelstandards strotzt.
    Zumindest wunderts den Durchschnittsmedienkonsumenten, wenn es da heißt:
    „als wäre es das normalste der Welt, bei einer Demonstration gewaltsam eine Polizeisperre durchbrechen zu wollen.“
    Ach ja?
    Genau das ist doch Standard bei allen anderen Events, wenn die sog. „friedlichen Gegendemonstranten“ die Polizeiketten gewaltsam durchbrechen. In diesem Fällen werden die Täter nicht nur nicht bestraft, sondern gar nicht erst von der Polizei verfolgt. Und medial, sofern überhaupt erwähnt, läuft das unter der Stanze „… kam es zu …“. Oder, noch schlimmer, die Täter werden gelobt für ihren couragierten Kampf. Die Politik schweigt fein still, denn sie wird ja nur im Ausnahmefall gefragt. Und dann kommt als höchstes der Gefühle vom Ministerpräsident, er sei gegen jede Form von Gewalt.
    Beispiele erspare ich mir, davon gabs in den letzten Jahren ausreichend in Leipzig, Dresden und Chemnitz.

    Ebenso strange so ein Konstrukt:
    „Um schließlich vom DJV-Vertreter zu Boden gebracht und an der Flucht gehindert zu werden und sich von einer Polizistin festhalten zu lassen.“
    der das Geschehen nicht falsch darstellt (immer schön juristisch absichern, das klappt ganz gut) und gleichzeitig so im Ungefähren lässt, dass gar nicht erst jemand auf die Idee kommt, Tat und Täter zu werten.

    Aber hey, worüber rede ich überhaupt.
    Es geht ja nicht darum, den Vorfall transparent darzustellen.
    Es geht darum, den mittellosen Alternativen ans Bein zu pinkeln.
    Wers braucht ...

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