Wer berichtet noch aus dem Landtag?

Der Kontakt zwischen Politik und Publikum ist gestört, gerade in den Ost-Bundesländern. Schuld daran ist auch die Schwäche des Landtags-Journalismus.

Von Christine Keilholz

Als ich noch neu war in der Sachsens Landespressekonferenz, hörte ich öfter eine Geschichte. Erzählt wurde sie meist von älteren, verdienten Kollegen. Es ging um aufgedeckte Skandale. Ungeheuerlichkeiten, überbracht sonntags in einem konspirativen Café per Umschlag unter dem Tisch. Deep throat war eine herausgehobene Persönlichkeit aus dem Verwaltungsapparat und selbstverständlich anonym. Am Montag, hieß es, stehe dann alles exklusiv im Blatt.

Tatsächlich hat eine solche bahnbrechende Enthüllung in meiner Erinnerung nur einmal stattgefunden. Aber der berüchtigte „Sachsensumpf“ mutet heute märchenhaft vergangen an.

Es gibt selten Geschichten aus dem Dresdner Regierungsviertel, für die es sich lohnen würde, einen Chefredakteur am Sonntag anzurufen.

Im Klickwettstreit chancenlos

Die Landespolitik hat als journalistischer Centercourt abgedankt. Das hat auch zu tun mit einem Wandel in der Presselandschaft. Vor zehn Jahren, als die Geschichte vom braunen Umschlag erzählt wurde, hatten die regionalen Tageszeitungen von Leipziger Volkszeitung bis zur Lausitzer Rundschau noch rund 300.000 Auflage und mehr. Sie waren noch nicht gezwungen, sich auf Themen zu konzentrieren, die ihren Lesern am liebsten sind.

Verlage konnten sich noch leisten, Bereiche zu besetzen wie die Politik auf Landesebene, die nicht kontinuierlich Sensationen hervorbringt. Heute leisten sich nur noch die wenigsten Medienhäuser landespolitische Reporterteams. Die Lausitzer Rundschau, die in Brandenburg und Sachsen gelesen wird, hat die Landespolitik ganz aufgegeben. In Thüringen kündigte die Landespressekonferenz vor vier Jahren an, künftig keine regelmäßigen Pressekonferenzen mehr anzubieten (inzwischen gibt es wieder Termine im Vorfeld des Plenums) - mangels Teilnehmenden.

Wir beobachten einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie Jürgen Habermas es ausgedrückt hat. Damit stellt sich keine philosophische, sondern eine Grundfrage der Demokratie: Entfällt der regionale Parlamentsjournalismus, reißt dann nicht auch die Vermittlungskette zwischen Parlament und Bürgern? Damit wäre die parlamentarische Demokratie in Gefahr.

Landespolitische Berichterstattung war schon immer eingequetscht zwischen dem lokalen Nahraum und dem großen Weltgeschehen. Der Platz auf den Zeitungsseiten für Landtagsabgeordnete mit ihren Kleinen Anfragen wird kleiner, wenn nicht gerade die Pandemie neue Verordnungen zum Top-Thema macht. Im Online-Geschäft hat die Landespolitik ihren Platz noch nicht gefunden. Den Klickwettstreit mit Blaulicht und Fußball kann die Landespolitik nicht gewinnen.

Gedöns wird ganz groß

Das wirbelt die regionalen Klein-Demokratien durcheinander. Noch vor wenigen Jahren brauchten Landtagsabgeordnete die Lobby, um nach Gesprächen mit Journalistinnen und Journalisten überhaupt wahrgenommen zu werden und in der Öffentlichkeit stattzufinden. Heute stellen sie ihre besten Redeschnipsel direkt bei Facebook ein. Den Weg aus der Polit-Blase finden zumindest die besten dieser Beiträge ganz ohne mediale Vermittlung.

Aber eine solche Blase bildet auch eine eigene Audience. Der landespolitische Betrieb mit um die 100 Abgeordneten, mit Tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Ministerialen hat so viel Personal wie ein ganzer Industriezweig. Viele Menschen also, die ihre Kolleginnen und Kollegen nicht leiden können, Ärger mit Vorgesetzten haben und sich im handgeklebten Pressespiegel wiederfinden wollen. Allein das war in alten Zeiten eine unendliche Ressource für Berichterstattung. Es ging um Personalrochaden, um „Zwist“ zwischen Ministern und „Zickenkrieg“ zwischen Ministerinnen.

Die reine Politik ist nicht immer berichtenswert. Die Landesebene hat in einigen Politikbereichen keine Entscheidungsbefugnis. In vielen Belangen des Lebens hat das Land nichts zu melden. Nachdem die Nachwende-Entwicklungspolitik mit ihren Milliardeninvestitionen verebbt ist, bleiben nur Bildung, Kultur, Gesundheit und - zumindest in Teilen - Sicherheit als letzte Domänen. Jene Themen, die im alten Bonn als Gedöns galten.

Ende der politischen Öffentlichkeit

Nicht erst Corona hat die Relevanzen umgedreht. Mit den neuen Themen kommen neue Figuren. So konnte etwa Petra Köpping - eine Frau aus der Sozial- und Kommunalpolitik - zur zweitwichtigsten Politikerin in Sachsen werden, die sogar für den Bundesvorsitz der SPD in Frage kam. Köpping verschaffte sich in unzähligen direkten Gesprächen mit Menschen eine Aufmerksamkeit, die sie über die gängige Politik-Berichterstattung nie bekommen hätte. Die meisten anderen tun das über Facebook und Instagram.

Mit den neuen Medien sind neue Foren entstanden, auf denen Politik verhandelt wird – auf eine ebenso niedrigschwellige wie niederträchtige Art. Jeder ist Autor, Redakteur, Verleger in einem.

Nur mit der Verantwortung, der sogenannten Gatekeeper-Funktion der Presse, ist es nicht weit her. In den sozialen Medien gilt das Prinzip einer Aufmerksamkeitsökonomie, die bereits im Mittelalter funktionierte: Mord, Seuchen, Verrat und Ehebruch sind die verlässlichsten Quotenhits, die denkbar sind. Und wenn sie nicht stattgefunden haben, dann werden sie eben erfunden.

Dass eine verlässliche, faktenbasierte Öffentlichkeit eine zentrale politische Funktion hat, muss erst wieder gelernt und verstanden werden. Es ist keine Bagatelle, wenn in Sachsen über eine Telegram-Gruppe 100.000 Leute zusammen finden, um Politiker zu beschimpfen – oder ihnen gar den Tod zu wünschen.

Damit geht die politische Öffentlichkeit kaputt. Das alte Band zwischen Politik und Öffentlichkeit waren die „redaktionellen Medien“. Die aber haben die Landespolitik halb aufgegeben, halb laufen sie den Social Networks hinterher.

Politische Aufmerksamkeit und Karriere entsteht nicht mehr über die Zeitung, sondern über Facebook. So konnte der Türsteher Lutz Bachmann zum Volkstribun werden, ohne jemals den Landtag betreten zu haben, allein mit Demonstrationen und Netz-Demagogie. Ein Dresdner Umweltaktivist namens Jörg Urban schaffte es zum Landesvorsitzenden der AfD, indem er deren Medium nutzte: Facebook.

Relevanz entsteht nicht mehr top-down

Habermas beschrieb den Strukturwandel der Öffentlichkeit als den Weg von der direkten Demokratie hin zu einer vermittelten Parlaments-Demokratie, in der Medien eine zentrale Rolle spielen. Inzwischen hat der Doyen der politischen Philosophie seine Strukturwandel-Thesen aktualisiert.

Politische Geschichten müssen heute die Rückwirkungen von Entscheidungen auf die Gesellschaft zeigen. Relevanz entsteht nicht mehr top-down. Je größer der Anteil der Zivilgesellschaft an Politik wird, desto mehr konkurriert das Hohe Haus mit anderen Akteuren. Das macht auch den Journalismus diverser.

Derweil testet die Praxis längst eigene neue Formate für eine funktionierende politische Öffentlichkeit. Neben werbenden Newslettern sind etwa so genannte politische „Verticals“ entstanden. Sie richten sich an ein kleineres Publikum, das über Fragen der Transformation der Gesellschaft und der Entstehung neuer Technologien und neuer Märkte informiert werden will. Sie greifen Themen auf, die die Zeitung als horizontales Medium, das von allen verstanden werden soll, nicht mehr adressiert.

Wenn es gelingt, dadurch eine neue Relevanz für das Wissen im Wandel zu schaffen, das für alle Bürger wichtig wird, könnte das Band zwischen Politik und Öffentlichkeit neu geknüpft werden.

2 Kommentare
  • J.R.
    Januar 19, 2022

    Bemerkenswerte Analyse. Danke.

  • Heiko
    Januar 19, 2022

    Danke für diesen Artikel.
    Was eine große Sächsische Zeitung anbetrifft, so habe ich gern die verschiedenen Texte von Gunnar Saft durchgelesen. Den Namen darf man (glaube ich) nennen, steht er doch immer unter den jeweiligen Artikeln. Allerdings ist seine Betrachtungsweise in der letzten Zeit eher „ruhiger“ geworden.
    Große Recherchen findet man zuweilen noch auf der Seite 3 dieser Tageszeitung. Allerdings kauft man dies mit einem Wust an Werbung und zusätzlich recht teuren Abo-Gebühren ein.

    Mit dem Betreiber dieses Flurfunk-Blogs hatte ich schon öfter Gedanken ausgetauscht. Ich glaube, dass die Schwäche der Medien in der regionalen/ lokalen Berichterstattung liegt. Ich kann jetzt nur für meine abonnierte Lokalzeitung sprechen – sprachlich ist das Gros der Artikel auf dem Niveau einer besseren Schülerzeitung. Inhaltlich orientieren sich die Redakteure eher am unteren Mittelmaß. Hofberichterstattung, kritiklose Übernahme von zugelieferten Informationen, keine eigene Recherche – seit Jahren. Dazu kommen technische Probleme. Manche Artikel erscheinen in einer Zeitung doppelt. Ein Text erschien neulich in einem Artikel 2x hintereinander. Und wenn gerade kein Platz ist (bspw. durch die vielen Todesanzeigen im Moment) erscheinen relevante Texte nur in der Online-Ausgabe (Sächsische.de), oder in der Nachbarredaktion, oder hoffnungslos veraltet oder gar nicht.

    Ich werde immer wieder wie ein Methusalem oder wie ein Mäzen angeschaut, wenn ich mich noch als Abonnent dieser Zeitung zu erkennen gebe. Der Zeitungsjunge (das klappt hervorragend!) hat in unserem Wohngebiet nicht mehr viel zu tun.
    Diese fehlenden Einnahmen dürften dann aber auch der Grund sein, warum kein Journalist/ keine Journalistin mehr dafür bezahlt wird, im Landtag einen Kaffee zu trinken, konspirativ Umschläge zu tauschen oder einfach nur ein offenes Gespräch zu führen.

    Wie kommt man aus dieser Informationsmisere wieder raus? Ich werde die „Neue Lausitz“ jedenfalls interessiert beobachten.

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