Die Russlandberichterstattung der vergangenen Jahre hat die Chance verpasst, aus einem historischen Feindbild ein vitales Freundbild entstehen zu lassen, meint der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Danny Schmidt. In seiner Dissertation hat er die Russlandberichterstattung von 1999 bis 2016 analysiert.
Gastbeitrag von Danny Schmidt, Universität Erfurt
Was hat eine selbsterfüllende Prophezeiung mit dem medial konstruierten Russlandbild der letzten 20 Jahre und dem aktuellen Krieg in der Ukraine zu tun?
Betrachten wir zunächst den Gegenstand aus etymologischer Perspektive: Die Prophezeiung verweist auf den altgriechischen Begriff prophetia, der für Aussagen bzw. für jemanden sprechen steht. Fragt man Wikipedia, so erhält man als Antwort: „Umgangssprachlich ist mit Prophezeiung meist eine Prognose von Ereignissen in der Zukunft gemeint“.
So unwissenschaftlich Wikipedia als Erkenntnisinstrument ist, so erkenntnisstiftend ist das Online-Lexikon aber gerade für das sogenannte Alltagswissen. Denn die Formulierung „umgangssprachlich“ verweist genau auf dieses Wissen. Alltagswissen ist wichtig, es ist so etwas, wie der Kleister unserer Gesellschaft. Spannenderweise ist es aber weniger Wissen, also eine direkte Aneignung von Fakten, im Sinne des Studiums einer Bedienungsanleitung, um beispielsweise eine Waschmaschine in ihrer Funktion nutzen zu können.
Alltagswissen ist eher so etwas wie ein Pauschbild, also ein Muster, welches sich durch ständige Wiederholungen mehr und mehr verfestigt.
Alltagswissen ist eher so etwas wie ein Pauschbild, also ein Muster, welches sich durch ständige Wiederholungen mehr und mehr verfestigt. Nur so ist es möglich, dass Menschen Gegenstände erkennen und über diese kommunizieren können. Interessanterweise kommunizieren Menschen dann aber nicht über genau diesen einen Gegenstand, sondern meist über eine Art verkürzte Vorstellung jenes Gegenstandes – mit folgendem Resultat: Viele Informationen werden übersehen, man konzentriert sich, natürlich ganz alltäglich, unterbewusst auf das Wesentliche.
Testen Sie es selbst: Malen Sie eine Palme! Und jetzt bitten Sie ihre Kinder, Lebenspartner, Freunde bei nächster Gelegenheit ebenfalls um ein Bild einer Palme. Keine weiteren Informationen sind nötig. Das Resultat: Sie werden überrascht sein, oder auch nicht, wie scheinbar identisch die gezeichneten Palmen der verschiedenen Personen sind.
Sie fragen sich jetzt zu Recht, was hat dieser Kontext mit unseren Bild von Russland zu tun? Nun, hier ist eine weitere Frage: Wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
Russland scheint grundsätzlich nicht das beliebteste Urlaubsland der Deutschen zu sein. Zuletzt rangierte es auf Rang 13, direkt hinter Marokko, aber noch vor Thailand. Nichtsdestotrotz hat jeder eine mehr oder weniger genaue Vorstellung davon, wie Russland als Land so ist und wie seine Bewohner so ticken. Keine Angst, an dieser Stelle müssen Sie jetzt nicht wieder zum Stift greifen, denn Bilder sind immer auch durch Sprache sichtbar. Da der direkte Erfahrungsaustausch also eher reduziert ist, muss es also einen weiteren Wahrnehmungskanal geben.
Und an genau dieser Stelle kommen nun die Medien ins Spiel. Jetzt könnte man ganz elegant den Soziologen Niklas Luhmann zitieren, der sagte: „Alles was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.“ Medial vermitteltes Wissen wird ähnlich wie direkt erfahrbares Wissen in das Alltagswissen transferiert und dort verankert. Ein wichtiger Punkt der erfolgreichen Verankerung ist die Wiederholung bestimmter Erzählmuster. Diese langfristigen Verankerungen spielen eine große Rolle, wenn es zur Konstruktion des nicht anwesenden Anderen kommt.
Der nicht anwesende Andere – ein barbarisches Wesen
In der Russlandberichterstattung taucht häufig der Begriff des Barbaren auf. Im 16. Jahrhundert war dieser Begriff eine Art Synonym für einen nicht christlichen Glauben. Damit wurde den Russen eine gewisse Unzivilisiertheit attestiert. Die damaligen Reiseberichte von Hofgesandeten beim russischen Zaren erzählten u.a. von dessen despotischer Herrschaft und der Unterwürfigkeit des russischen Volkes. Zudem wird den Russen bereits im Jahre 1549 durch Sigismund von Herberstein eine Trunksucht attestiert.
Über die nachfolgenden Jahrhunderte bildeten sich drei große Kategorisierungsformen heraus: Zum einen der Russe als Naturmensch. In dieser Vorstellung wird er liebenswürdig und kindlich naiv wahrgenommen. Zum anderen gilt er aber auch als Barbar – im Grunde also als die böse Seite des Naturmenschen, der irrational in der Logik des Stärkeren agiert. Das dritte Narrativ ist der sogenannte Seelenmensch. Diese Idee spielt auf eine ausgeprägte Religiosität an, die bis in Okkultische reicht.
Die vielzitierte russische Seele als Muster rekurriert auf ein Zusammenspiel genau dieser drei Narrative. Auffällig an diesem nach wie vor vitalen Konstruktionsmuster des deutschen Russlandbildes ist die Abwesenheit des europäischen Aufklärungsgedankens: Sapere aude! – der Ruf Immanuel Kants aus Königsberg scheint nicht bis nach Moskau gedrungen zu sein. Zu unendlich die Weiten des Ostens. Der Mut, von dem Kant spricht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, scheint im Russlandbild nicht zu verfangen. Die drei Kategorisierungen sind zu dominant.
Es ist diese scheinbare Abwesenheit der Aufklärungsidee, die eine Art Demarkationslinie prägt. Die Essenz dieses Effekts ist ein historischer Prozess, der das Russlandbild als eine Art Negativabzug des eigenen Bildes sieht.
Es ist diese scheinbare Abwesenheit der Aufklärungsidee, die eine Art Demarkationslinie prägt. Die Essenz dieses Effekts ist ein historischer Prozess, der das Russlandbild als eine Art Negativabzug des eigenen Bildes sieht. Und an dieser Stelle wird es dann ganz wie im Fotolabor schnell schwarz und weiß: Der Barbar im Osten wird zur wahrnehmungspsychologischen Voraussetzung für die Konstruktion des aufgeklärten Menschen im Westen. Hier wird der Grundstein der Ost-West-Polarisierung gelegt. Dieser ist im zeitgenössischen Russlandbild dominierend, wie meine aktuelle Studie zum medialen Russlandbild in Deutschland in den Jahren 1999 bis 2016 zeigt.
Der Begriff „Westen“ war während dieses Zeitraums der meistselektierte Begriff im Kontext der Russlandberichterstattung durch deutsche Leitmedien. An dieser Erkenntnis wird sichtbar, was Luhmann meint, wenn er sagt: „Das Fremdbild ist der nichtsichtbare, aber dennoch markierte Teil des Selbstbildes“. Damit wird auch klar, wie diffus die Abgrenzung zwischen „uns“ und den „anderen“ ist. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft wird dies deutlich, wenn Sanktionen, welche gegen Russland wirken sollen, auf Deutschland selbst zurückfallen.
Wer ungesund lebt, lebt länger
Dies zeigt auf, wie kontext- und perspektivbezogen politische Interessen und damit implizierte Erzählperspektiven sein können. Demensprechend können Feindbilder, aber auch Freundbilder plausibel und passend konstruiert oder auch dekonstruiert werden – Kontext is King. Grundsätzlich gilt aber: Je fester eine bestimmte Erzählperspektive im Alltagswissen eingewoben ist, desto wahrscheinlicher ist die Reproduktion des jeweiligen Musters – was wiederum auf die Festigkeit der Erzählperspektive einzahlt. Der trunksüchtige Russe hat, trotz seiner ungesunden Lebensweise, so bereits Jahrhunderte überlebt.
Ein weiterer Aspekt in der Analyse des medialen Russlandbildes der letzten Jahre bringt den Begriff des Zaren ins Spiel. Alle russischen Staatsoberhäupter werden medial als Zaren beschrieben, egal ob blau im Blut oder rot im Herzen. Selbst der Posterboy der friedlichen Revolution von 1989, Michael Gorbatschow wurde dieser medialen Inthronisierung in seinen frühen Amtsjahren unterzogen, wie es der Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede feststellte.
Hier scheinen die Medien ganz fest im Griff eines Stereotyps zu sein, welches bis zum heutigen Tag anhält, wie die aktuelle Studie aufzeigen konnte.
Am 26. September 2001 wurde Wladimir Putin, im zweiten Jahr seiner Amtszeit als gewählter Präsident, von Günther Nonnenmacher in der „FAZ“ zum neuen Zaren von Russland gekrönt. Mit der Überschrift „Putins Russland“ markierte der FAZ-Mitherausgeber eine Zeitenwende. Putin auf dem Thron Russlands. Zarengleich reißt er Russland an sich und Russland unterwirft sich ihm, ganz im Sinne der russischen Seele.
„Putins Russland“ ist mehr als eine Beschreibung, es könnte für ein Russlandbild stehen, welches die letzten 20 Jahre geprägt hat. Auch Jürgen Habermas macht auf diesen Aspekt aufmerksam, wenn er in seinem vielbeachteten Artikel „Krieg und Empörung“ vom 29. April 2022 in der „SZ“ davon spricht, dass „die Konzentration auf die Person Putins [...] zu wilden Spekulationen [führt], die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten.“
Das heutige Russlandbild wird sehr stark im Kontext des Kalten Krieges wahrgenommen.
Im Grunde genommen wird hier ein sich selbst verstärkender Prozess sichtbar – und damit kommen wir zu weiteren Erkenntnissen der Studie: Das heutige Russlandbild wird sehr stark im Kontext des Kalten Krieges wahrgenommen. Es sind Begriffe wie „Sowjetunion“, „Atomwaffen“ oder „Stalin“, welche mit starker Vitalität immer wieder quasi ahistorisch eine Vergangenheit wachrütteln, die von Wettrüstung und einer globalen Kriegsangst geprägt war. Wenn man so möchte, ist der mediale Krieg seit 1999 nicht nur als narratives Element nachweisbar, sondern fast schon dominierend. Der Begriff „Krieg“ ist einer der meistselektierten Begriffe. Fast hat man den Eindruck, dass Russlandberichterstattung gleich Kriegsberichterstattung ist.
An dieser Stelle wird nun die Prophezeiung sichtbar. Aus einem medial konstruierten Kalten Krieg ist ein realer heißer Krieg geworden. Die mediale Kriegsprognose, wenn man so will, ist also nach mehr als 20 Jahren Wirklichkeit geworden.
Waren es 2000 in Tschetschenien, 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine noch regionale Kriege, so unterscheidet sich der Krieg 2022 in der Ukraine signifikant davon. Im Jahr 2022 ist die historische bipolare Ideologie zurück.
Die von Olaf Scholz verkündete Zeitenwende steht als Begriff für ein Scheitern der Politik des Wandels durch Handel. Damit werden mindestens 30 Jahre deutscher Außenpolitik beendet. 100 Milliarden Euro extra für das Militär sprechen die Sprache des Kalten Krieges. Der aktuelle Krieg in der Ukraine startete am 24. Februar 2022. Die mediale Konstruktion des Krieges in Form des sogenannten Kalten Krieges manifestiert sich als feste Konstante in der medialen Berichterstattung seit den historischen Zeiten der Berliner Mauer, des Wettrüstens und der globalen Blockbildung.
Scheinbar haben wir, zumindest medial, die Chance verpasst, aus einem historischen Feindbild ein vitales Freundbild entstehen zu lassen. Die konstante Feinbildkonstruktion der letzten 30 Jahre scheint spätestens seit dem 24. Februar 2022 in erschreckender Weise Realität geworden zu sein.
Danny Schmidt ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Seine Dissertation trägt den Titel „Russland im Spiegel der Medien“ und ist beim Berliner Verlag Frank und Timme veröffentlicht. Er lehrt an der Universität Erfurt zu den Themen internationale Mediensysteme und Diskursforschung. Darüber hinaus ist er als freier Bildungsreferent zu den Themen Medienkompetenz und Nachhaltigkeit tätig. Er lebt in Berlin.
Oktober 10, 2022
In einem Elfenbeinturm sitzend, könnte man diese Beurteilung einer „scheinbaren Feindbildkonstruktion“ fast nachvollziehen, wäre die Welt eine Scheibe und man wäre nicht konfrontiert mit dem RUS Überfall auf die Ukraine. Beste Konsequenz: diesen Artikel nicht lesen, nicht verbreiten und kommentiere. Leider wird sich dann der Autor auch noch bestätigt sehen.
Oktober 10, 2022
Gelesen und Artikel für findig befunden. Mich langweilen Artikel, die binäre Denkmuster bedienen, eindimensional sind und den Charme einer Betonmauer versprühen.
Ach Herr John D, warum greifen Sie den Autor an? Mich erfreut der Gedanke der Freundschaft, Sie etwa nicht? Der Andere ist dem Selbst, von uns und vom selben unähnlich und das Gegenteil davon, oder etwa nicht Herr John D?
Oktober 11, 2022
Da haben "die Medien" ihren Job doch hervorragend gemacht, wenn Sie die Diktatur der Silowiki, den Blut und Boden-Imperialismus Dugins und russische Angriffskriege beschrieben oder sogar prophezeit haben!
Der Gastautor findet, die von ihm untersuchten Zeitungen und Zeitschriften hätten all dies sogar bewirkt. Denn er nennt ihre Berichterstattung "selbsterfüllende Prophezeiung". Sein einziger Beleg: die Binsenweisheit, wonach Massenmedien unsere Vorstellungen von der Welt prägen.
Naives, theoretisch und methodisch unsolides, undifferenziertes Medienbashing, das vor allem den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie folgt und die Erregungskultur füttert!
Bei R. D. Precht erwartet man das. Bei einem Doktor der Uni Erfurt, der sich "Medien- und Kommunikationswissenschaftler" nennt, wundert man sich.