Wir sind mittendrin. Zur Zukunft der sozialen Netzwerke

Die einstige Hoffnung vieler Netzaktiver, dass die sozialen Netzwerke die Gesellschaft revolutionieren und verbessern werden, sind bitter enttäuscht worden. Doch die Entwicklung ist noch nicht am Ende. Medien und Politik sind gefordert.

Text: Peter Stawowy

Dieser Text ist zuerst in FUNKTURM Nr. 9 (ET 18.1.2019) erschienen. 

An manchen Tagen ist es unerträglich: Facebook öffnen, Timeline durchscrollen, Horrormeldungen oder idiotische Kommentare lesen und eine Antwort überlegen. Angefangenen Kommentar wieder löschen. Dämlichen Witz teilen oder besser noch: selbst ausdenken. Auf Reaktionen warten. Facebook zu.

Schon klar: Das Instrument ist immer auch so gut, wie man es selbst spielt. Und trotzdem: Zunehmend schleicht sich Unwohlsein bei der Nutzung ein, insbesondere bei Facebook. Zu viel hat der Konzern dafür getan, die eigene Kundschaft zu verprellen – durch ständige Veränderungen des Algorithmus, diverse Datenskandale oder auch die Tolerierung von Manipulationen im US-amerikanischen Wahlkampf.

Neulich erst wurde bekannt, dass Facebook erneut seine Gemeinschaftsstandards verschärft hat. Wie gewohnt: ohne öffentliche Ankündigung. Demnach sind jetzt schon vage anzügliche Bemerkungen wie „ich möchte heute Nacht noch Spaß haben“ und generell sexualisierte Sprache – selbst im eher „privaten“ Messenger – verboten. Allerdings kontrolliert nicht Facebook die Postings, wie mancher Medienbericht suggerieren mag, sondern das Netzwerk reagiert sensibler auf Meldungen von Nutzern.

Dennoch färben die Wahrnehmung des zunehmenden Kontrollverlustes durch den Einzelnen und der Verdacht, manipuliert zu werden, auch auf andere Netzwerke ab. Neue gesetzliche Regeln wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sorgen zusätzlich für Zögern bei der Nutzung.

2,92 US-Dollar pro Nutzer

Tatsächlich sind die Facebook-Nutzerzahlen 2018 in Europa erstmals leicht rückläufig gewesen. „Nur“ noch 375 Millionen monatliche Nutzer (statt wie im Vorjahr 376 Millionen) meldete das Netzwerk in seinem Börsenbericht für den Kontinent. Dabei sind die europäischen Nutzer für das blaue Netzwerk durchaus lukrativ: 2,92 US-Dollar verdient Facebook im Durchschnitt monatlich an einem Nutzer, primär über Werbung. In den USA sind es sogar 8,64 US-Dollar, im übrigen Teil der Welt dagegen deutlich weniger als ein Dollar.

Habeck schaltet ab

Als wäre es für diesen Text bestellt, platzte dann Anfang Januar die Nachricht rein, dass der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck seine Twitter- und Facebook-Profile abschalten will. Anlass ist die Veröffentlichung privater Chatverläufe bei Facebook, die im Rahmen des Angriffs auf persönliche Daten zahlreicher Politiker und Prominenter erfolgte. Außerdem grämte sich Habeck über eine missverständliche Video-Botschaft bei Twitter. „Kann sein, dass das ein politischer Fehler ist, weil ich mich der Reichweite und direkten Kommunikation mit doch ziemlich vielen Menschen beraube“, schrieb er zur Begründung in seinem Blogbeitrag „Bye bye, Twitter und Facebook“. „Aber ich weiß, dass es ein größerer Fehler wäre, diesen Schritt nicht zu gehen“, so Habeck weiter.

Die mediale Kommentierung fiel vernichtend aus: Ein Politiker seines Kalibers müsse die Netzwerke beherrschen und dürfe sich nicht einfach abwenden, nur weil mal ein Fehler passiert, mahnten Zeitungen und Netzgrößen. Er bediene das populistische Muster, „einfach raus“ als Lösung für komplexe Herausforderungen, schrieb etwa Dirk von Gehlen, bei der Süddeutschen Zeitung zuständig für Social Media und Innovation. „Die Plattform ist schuld – natürlich nicht der Nutzer Habeck, der mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Zugänge nicht ausreichend schützte“, kommentierte auch Internet-Urgestein Thomas Knüwer den Ausstieg – und verabschiedete sich mit seinem Kommentar zum Vorgang auch gleich mal vom „Hoffnungsträger“ Habeck.

Zwei oder drei Tage tobt die mediale Kommentierung über Habecks – am Ende – sehr persönliche Entscheidung. Die Heerscharen von Journalisten, die ihn mit Kommentaren und Schlagzeilen zurück in die Ecke verwiesen, bedienten dabei ein Muster, dass schon lange in der Politik zu finden ist, aber ebenfalls durch die sozialen Netzwerke gewaltig an Dynamik gewonnen hat: das Hoch- und Runterschreiben von Hoffnungsträgern. Der einstige SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz hat es erlebt, Habeck folgt jetzt – beide Male keine komplett neuen Abläufe in der Politik. Aber die Geschwindigkeit hat gewaltig an Fahrt aufgenommen.

Aufregung als Volkssport

Es gibt noch mehr solcher, nennen wir sie: Netz-Mechanismen. Jemand teilt einen Medien(!)-Link mit einer Schlagzeile und bringt mit ein bis zwei Sätzen seine Besorgnis über den Zustand der Gesellschaft zum Ausdruck. Um dann spätestens in der Diskussion festzustellen, dass „wir“ (gemeint ist die Gesellschaft) ein gewaltiges Problem haben… Ach, haben wir? Und müssen wir sofort reagieren?

Der Zukunftsforscher Matthias Horx nannte dieses Phänomen einmal „Immer-Schlimmerismus“. Der sei zu „einer kulturellen Grundstimmung geworden“, so der Zukunftsforscher. Das Abarbeiten am Leid der Welt und das Jammern über den Zustand oder sogar den Niedergang der Gesellschaft – darf man es schon als neuen deutschen Volkssport bezeichnen?

Mechanismen: Honeypots und Shitstorms

Manchmal überraschen die Entwicklungen auch: Dass sich der Hashtag #NazisRaus tatsächlich zu einem „Honeypot“ entwickelt, der nach einen Shitstorm nach sich zieht, hätte wohl so keiner gedacht. Die Faktoren – Hauptstadt-Korrespondentin des ZDF als Absenderin, ironische Parade auf die Nachfrage, was für sie denn ein Nazi sei – passten einfach.

Überhaupt, Shitstorms. Noch so ein Netz-Mechanismus, der vor zehn Jahren unvorstellbar war: Gefühlt sind Shitstorms salonfähig und irgendwie normal geworden – so was muss man heute wohl abkönnen. Die eigene Erfahrung lehrt: „Don’t feed the troll“ funktioniert manchmal immer noch. Andererseits ist es offenkundig so, dass die ganze Hass- und Wutschreiberei erste Auswirkungen auf das Alltagsleben nach sich zieht. Zumindest die mediale Wahrnehmung von körperlichen Angriffen auf Politiker und politische Einrichtungen wie Abgeordnetenbüros nimmt zu.

Euphorie war wohl unangebracht

Mancher schreibt sogar von der Spaltung der Gesellschaft. Was ist eigentlich damit genau gemeint? Läuft irgendwo ein Graben durch Städte und Gemeinden? Oder finden schon Straßenschlachten statt? Der Begriff ist in jedem Fall problematisch – denn es besteht immer auch die Gefahr, etwas herbeizuschreiben, was im Grunde gar nicht ist.

Innehalten, überlegen, was man schreibt, in der Diskussion respektvoll bleiben – nicht nur für die noch vergleichsweise junge gesellschaftliche Infrastruktur „soziale Netzwerke“ muss das wohl vielerorts erst gelernt werden. Auch mancher Journalist muss da vielleicht noch mal an sich arbeiten.

Dabei sah die Anfangseuphorie für die sozialen Netzwerke ganz andere Szenarien vor: Als vor etwas mehr als zehn Jahren Twitter aufkam und noch ein Sammelpunkt für selbsternannte Netzexperten war, kam Aufbruchstimmung auf. Gesellschaft und Demokratie würden von den neuen Kanälen profitieren, hoffte man, indem eben alles gerechter, direkter und ehrlicher werde. Leider lässt dieser Zustand immer noch auf sich warten – eher scheint das Gegenteil der Fall.

Medien haben Verantwortung

Aber wir sind ja noch nicht „am Ende“. Eine zentrale Rolle bei der Suche nach Auswegen aus der Weltuntergangsstimmung und der hitzigen Gesellschaftsdebatte spielen – es mag überraschen – die Medien. Sie sind nach wie vor Nachrichtenmacher und -verstärker. Nachdem die Branche das Gejammere über den großen Geburtsfehler, im Netz alles kostenlos zur Verfügung gestellt zu haben, hinter sich gelassen hat, geht die Suche nach neuen Erlösmodellen weiter. Die sozialen Netzwerke werden dabei intensiv eingebunden. Nur: Die journalistische Unart, „Aufregung“ im Netz für die öffentliche Meinung zu halten, führt weiter in die Glaubwürdigkeitsfalle.

„Wem kann man denn noch vertrauen?“, fragte jüngst die Teilnehmerin eines Volkshochschulseminars zum gefühlten Vertrauensproblem der Medien. Die Frage ist zentral für die ganze Entwicklung: Im immer schneller werdenden Nachrichtenzirkus, garniert mit reichlich Betroffenheit und persönlicher Aufregung, wären beizeiten eine ruhige Einordnung von Zusammenhängen, die gründliche Recherchen und die Vermeidung von unnötiger Skandalisierung sehr sinnvoll.

Tiefgründigkeit kann punkten

Der Appell an die Verantwortung – im Kontrast zu sinkenden Druckauflagen und steigenden Kosten – verhallt aber noch zu oft im Nirwana. Erste Ansätze, mit inhaltlicher Tiefe und eben nicht besonders großer technischer Reichweite journalistisches Geschäft zu machen, zeichnen sich langsam ab.

Beispiele gefällig? Die „Zeit im Osten“ hat sich mit den regionalen Seiten aus Leipzig erfolgreich in der ostdeutschen Medienlandschaft etabliert. Die Krautreporter haben ein Angebot für Sachsen gestartet, das auf lange Hintergrundstücke setzt – mit dem Wissen, dass die erfolgreichsten Artikel des Angebots häufig eine Lesedauer von über 30 Minuten haben.

Podcasts finden immer mehr Anhänger und auch erste Werbekundschaft. Und auch der Ansatz der Sächsischen Zeitung, der bundesweit für Aufmerken sorgte, „Online first bzw. Online only“ jetzt endlich anzugehen, zeigt die Entscheidung, auf Inhalte statt auf Aufregung (und viele Klicks) zu setzen. Das Kernproblem wird aber bleiben: Wie finanzieren?

Politik muss weiter lernen

Gefordert ist auch die Politik: Zwar hat ein Lernprozess begonnen, aber immer noch fehlt es flächendeckend an Kompetenz. Betrachtet man die Social-Media-Aktivitäten manches Landesministeriums, fragt man sich schon, ob Aufwand und Nutzen lohnen. Andererseits gibt es viele gute Ansätze, die veränderten Kommunikationsstrukturen zu nutzen – gerade die Bundesministerien haben da einige Vorbildwirkung.

Was erfolgreiche Social-Media-Verantwortliche von den übrigen unterscheidet? Oftmals haben sie Rückendeckung und Verständnis ihrer obersten Vorgesetzen – vor fünf Jahren noch wäre auf einen Shitstorm die Degradierung gefolgt, heute weiß man so etwas auszuhalten.

Noch sehr langsam setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass der Köder dem Fisch schmecken muss – dass der Einsatz von sozialen Medien eben auch bedeutet, aus Nutzersicht und deren Interessen zu denken. Nach wie vor befindet sich aber die Kommunikation vieler Institution im Top-down-Sendemodus. Es gilt die Regel: Interessiert es kaum jemanden, ist es nicht spannend!

Transparenz und Regeln

Eine andere Herausforderung ist es, der zunehmenden Flut von Falschinformationen beständig entgegenzutreten. Sachliche Richtigstellungen, vernünftige und ruhige, unemotionale Reaktionen sind der beste Weg, der gefühlt zunehmenden Unwahrheit entgegenzutreten.

Mit etwas Glück für uns alle lernen die Nutzer mit der Zeit, sich nicht mehr von der Aufregungsspirale mitreißen zu lassen. Dabei kann sicherlich auch helfen, typische politische Kommunikationsvorgänge und -methoden, die ja nicht erst da sind, seit es Social Media gibt, immer wieder zu benennen und transparent zu machen.

Und dann ist ja auch noch die Medienpolitik gefragt: Es kann eigentlich nicht sein, dass private Tech-Konzerne bestimmen, was Thema ist und was nicht. Über kurz oder lang wird es hoffentlich eine Regulierung für die großen sozialen Netzwerke geben – damit das Netz endlich seinen Siegeszug zur Verbesserung der Gesellschaft antreten kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in FUNKTURM Nr. 9, ET 18.1.2019.

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